Am 1. Juli 1998 wird Großgrimma zur Stadt Hohenmölsen eingemeindet. Fast alle ehemaligen Dorfbewohner haben zu diesem Zeitpunkt ein neues Zuhause in Hohenmölsen oder in der Region gefunden.
Nur 100 km entfernt
Anfangs ist es für viele Großgrimmaer noch ungewohnt im neuen Zuhause, auch für Sabine M. und ihre Familie.
Wie im Hotel
Als die ersten Häuser am Südhang bezogen werden, werden auch die alten Hohenmölsener neugierig und verlegen ihre Sonntagsspaziergänge in das neue Wohngebiet. Dabei kommt es mitunter zu grotesken Szenen.
Wie im Zoo
Das neue Zuhause am Südhang verändert das Gemeinschaftsleben der ehemaligen Bewohner Großgrimmas.
Bis zum Ende der DDR liegt Großgrimma in einem sog. “Bergbauschutzgebiet”. Das bedeutet, dass das Gebiet im und um den Ort bereits für den Braunkohlenbergbau vorgesehen ist und deshalb von Seiten der öffentlichen Verwaltung nicht mehr in die Infrastruktur investiert wird. Das Straßennetz, die Abwasserentsorgung und die Energieversorgung sind Ende der 1980er Jahre marode, viele Gehöfte sind bereits stillgelegt und auch die Wohnsubstanz ist sanierungsbedürftig.
Das kulturelle und soziale Leben ist jedoch weiterhin intakt. In Großgrimma gibt es einen aktiven Sportverein, einen Kindergarten, eine Schule und Geschäfte für den täglichen Konsumbedarf.
Zur Gemeinde Großgrimma gehören auch die Orte Grunau, Domsen, Mödnitz, Bösau und Deumen.
Sabine M., die spätere Bürgermeisterin von Großgrimma, lebt mit ihrer Familie im Ortsteil Mödnitz und beschreibt ihre damalige Wohnung.
Für die damaligen Verhältnisse sehr schön
Aufgrund der materiellen Verhältnisse zu DDR-Zeiten helfen sich die Nachbarn gegenseitig in einer Art Solidargemeinschaft.
Auf nachbarschaftliche Hilfe angewiesen
Der politische Umbruch im Zuge der Friedlichen Revolution 1989/90 bringt nicht nur das SED-System zu Fall und ermöglicht die Wiedervereinigung, sondern ändert auch das Gemeindeleben von Großgrimma nachhaltig. Die kommunale Selbstverwaltung tritt 1990 in Kraft und die Gemeinde Großgrimma kann nun erstmals selbst entscheiden, wie sie ihre weitere Zukunft gestalten will. Sabine M. wird die erste demokratisch gewählte Bürgermeisterin nach dem Ende der DDR. Gemeinsam mit dem Gemeinderat wägt sie angesichts der maroden Infrastruktur, der Abwanderung der jungen Generation und der hohen Arbeitslosigkeit in der Gemeinde zwei Optionen für Großgrimma ab: Revitalisierung oder Umsiedlung.
Ausgangslage
1992 spricht sich der Gemeinderat Großgrimmas für eine Umsiedlung aus. Innerhalb der Bürgerschaft gibt es unterschiedliche Meinungen dazu. Viele der von Umsiedlung Betroffenen arbeiten in der Braunkohlenindustrie und ihre Arbeitsplätze hängen vom Aufschluss weiterer Tagebaue und damit auch von der Aufgabe von Ortschaften ab. Gleichzeitig wollen sie ihr bisheriges Zuhause nicht verlieren und die Landwirte fürchten den Wegfall ihrer Existenzgrundlage.
Zwischen Angst und Hoffnung
Im Anschluss werden zeitlich versetzt zwei Bürgerbefragungen durchgeführt – zum einen vom Bergbauunternehmen MIBRAG und zum anderen vom Planungsbüro für die Umsiedlung. Damit soll geprüft werden, ob der Gemeinderatsbeschluss zur Umsiedlung auch das Votum der Einwohner hat.
Nach dem Gemeinderatsbeschluss für eine Umsiedlung droht das Dorfleben zunächst auseinanderzubrechen. Zwei Bürgerinitiativen gründen sich in Großgrimma. Die eine lehnt die Umsiedlung ab und die andere will die Umsiedlung konstruktiv begleiten. Damit die verschiedenen Lager innerhalb der Bürgerschaft nicht völlig auseinander driften, versucht die Bürgermeisterin Sabine M. das Vereinswesen zu stärken.
Die Dorfgemeinschaft zusammenhalten
Sehr schnell fällt die Entscheidung, dass die Bewohner Großgrimmas am besten nach Hohenmölsen umsiedeln sollten.
Der Südhang im Sonnenlicht
Der Südhang ist zu dieser Zeit noch Ackerland mit wenigen Feldwegen. Sabine M. vereinbart daraufhin mit der Gemeinde Hohenmölsen, diese Fläche als zukünftiges Wohngebiet für die Einwohner Großgrimmas zu reservieren.
Nach dem Gemeinderatsbeschluss für eine Umsiedlung übernimmt Sabine M. fortan nicht nur die üblichen Dienstgeschäfte einer Bürgermeisterin, sondern auch das Projektmanagement der Umsiedlung. Sie vermittelt zwischen dem Bergbauunternehmen MIBRAG, das die Kohle unter Großgrimma fördern möchte, der Landesregierung Sachsen-Anhalt, der Stadt Hohenmölsen und den Bürgern ihrer Gemeinde.
Unter ihrer Regie entsteht zwischen dem Bergbauunternehmen, der Stadt Hohenmölsen und der Gemeinde Großgrimma ein Kommunalvertrag, in dem die grundlegenden Punkte für die Umsiedlung zwischen den Vertragspartnern festgelegt werden. Der Kommunalvertrag stellt die Grundlage für die späteren Umsiedlungsverträge dar, die mit jedem einzelnen Haushalt aus Großgrimma abgeschlossen werden.
Ein Angebot zur gemeinsamen Umsiedlung
Die Umsiedlungsverträge ermöglichen Mietern aus Großgrimma, am Südhang von Hohenmölsen ein Eigenheim zu bauen und entschädigen die Hausbesitzer und die Landwirte in der Gemeinde für ihre Immobilien, ihre Grundstücke und Agrarflächen.
Im Gegensatz zu den Umsiedlungen zu DDR-Zeiten, wie sie Dobergast erlebte, läuft die Umsiedlung von Großgrimma sozialverträglich ab. Die Bürger werden angemessen entschädigt und haben Einfluss auf den Prozess der Umsiedlung. Das befördert jedoch gerade unter den zu DDR-Zeiten Umgesiedelten in Hohenmölsen einen gewissen Sozialneid gegenüber den Großgrimmaern.
Erst Mitleid, dann Sozialneid
Durch Investitionen an der Schnittstelle vom Südhang zum Stadtkern von Hohenmölsen versucht man Brücken in die neue Heimat zu bauen. Das Bürgerhaus und beispielsweise eine Turnhalle enstehen, die allen Einwohnern Hohenmölsens zugute kommen. So versuchen die Verantwortlichen des Umsiedlungsprozesses, einer Abspaltung des Südhangs vom Rest der Stadt entgegenzuwirken.
Sabine M. gestaltet die Umsiedlung nicht nur mit, sie ist als Großgrimmaer Bürgerin auch selbst davon betroffen. Zusammen mit ihrer Familie muss sie ihre eigene Umsiedlung an den Südhang planen und organisieren. Sie verabschiedet sich persönlich von ihrem alten Zuhause und ihr Mann reißt es für das Abbruchunternehmen GALA sogar selbst ab.
Im März 1992 beschließt der Gemeinderat von Großgrimma die freiwillige, vorzeitige und gemeinsame Umsiedlung des Dorfes und seiner dazu gehörenden Ortsteile. Die Umsiedlung wird schließlich am 27.11.1998 mit einer feierlichen Abschlussveranstaltung unter dem Motto “Willkommen und Abschied” offiziell beendet.
1995 fotografiert Dietmar Winter Großgrimma und seine Bewohner und hält diese Zeit des “Dazwischen” in seinen Bildern fest.
Vor dem Eingang zur Gemeindeverwaltung.
Auf dem Sportplatz wird noch Fußball gespielt.
Das Feuerwehrhaus mit seinen roten Toren.
Obwohl sich die Bewohner Großgrimmas schon 1992 mit großer Mehrheit für eine freiwillige, vorzeitige und gemeinsame Umsiedlung entschieden haben, hängen noch 1995 vereinzelt Protestschilder gegen die Umsiedlung an wenigen Zäunen und Häusern.
Die Poststelle in Großgrimma.
Einblick in die Friedensstraße.
Die ehemalige Otto-Schlag-Oberschule von Großgrimma.
Blick auf das Gemeindehaus Großgrimma.
Weitere Fotos von Großgrimma und seinen Ortsteilen finden sie hier.
Die Gemeinde Großgrimma hatte schon 40 Jahre lang den Status “Bergbauschutzgebiet“. Das bedeutet, dass kein Geld mehr in die Gemeinde investiert wurde. Die Infrastruktur des Ortes hatte darunter zu leiden. Es gab nicht einmal eine Kanalisation, das Abwasser lief in Gräben neben den Straßen entlang.
Die Mehrheit der Bevölkerung Großgrimmas war für die Umsiedlung des Ortes nach Hohenmölsen. Zwar gab es auch eine Bürgerinitiative, die sich gegen den Wegzug und die Auflösung der Ortschaft wehrte, doch die Proteste verstummten schon bald nach einer Umfrage des Gemeinderates im Jahr 1993. Dort stimmten 75 Prozent der Einwohner Großgrimmas für den Umzug und weitere 15 Prozent schlossen sich den Befürwortern ebenfalls bald an.
1994 kam es zum Abschluss des Umsiedlungsvertrages. Die Einwohner Großgrimmas sollten demnach in Hohenmölsen ihre neue Heimat finden. 1995 begannen die Bauarbeiten für ein neues Wohngebiet in Hohenmölsen-Süd. Dort sollten Eigenheime und Mietwohnungen für die Menschen aus Großgrimma entstehen. Der Umzug der Großgrimmaer Bevölkerung geschah freiwillig, sogar 10 Jahre früher als vertraglich notwendig. Der erste Spatenstich im vier Kilometer entfernten Hohenmölsen-Süd wurde von den meisten Bewohnern Großgrimmas wie eine Dorfkirmes gefeiert.
Die Gemeinde sollte und wollte zwar auch in ihrer neuen Heimat zusammen bleiben, aber keinesfalls von der Stadt Hohenmölsen isoliert sein. Es wurde deshalb u.a. ein Bürgerhaus, eine Turnhalle und ein Kindergarten für die gesamte Stadt errichtet und Straßen gebaut, auf denen man schnell in die Innenstadt Hohenmölsens kommen kann.
Drei Jahre später waren schließlich alle 800 Einwohner Großgrimmas in Hohenmölsen untergebracht und die Umsiedlung war damit abgeschlossen. Am 1. Juli 1998 wurde Großgrimma schließlich in die Stadt Hohenmölsen eingemeindet.
Die letzte Bürgermeisterin Großgrimmas war Sabine Meinhardt. Sie war maßgeblich an der Umsiedlung der Ortschaft und an den Vertragsverhandlungen beteiligt.
Während die Ortsteile Bösau, Domsen, Mödnitz und Deumen direkt nach dem Wegzug ihrer Bewohner abgetragen wurden, blieb die Siedlung in Großgrimma selbst noch einige Jahre bestehen. Die Bundeswehr nutzte die leerstehenden Gebäude für die Ausbildung ihrer Soldaten zum Kosovo-Einsatz. Erst 2006 begannen dort die Abrissarbeiten, die bis heute andauern.
Für die ehemaligen Bewohner des Dorfes Großgrimma wurde ab 1995 ein neues Wohngebiet am sog. “Südhang” in Hohenmölsen errichtet. Neben Eigenheimen und Mietshäusern entstand u.a. das Agricola-Gymnasium, ein Bürgerhaus für Vereine, eine Stadtbibliothek, eine Turnhalle sowie ein Kindergarten. Die Straßennamen des ehemaligen Großgrimmas wurden übernommen und es wurde darauf geachtet, dass die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den umgesiedelten Bewohnern erhalten blieben, wenn dies gewünscht wurde. 1998 zogen die letzten Einwohner Großgrimmas nach Hohenmölsen-Süd um. Diese Fotostrecke zeigt die neue Heimat “Südhang” der ehemaligen Großgrimmaer.
Die Verbindung vom Altmarkt in der Innenstadt zum Südhang.
Man blickt auf eine große Hügellandschaft hinab, die geprägt ist von Bäumen und Feldern.
Großgrimma ist hier noch immer verankert.
Der “grüne” Südhang.
Wander- und Radwege laden zu ausgedehnten Spaziergängen ein.
Hier lernen die Staatsanwälte und Ärzte von morgen (Agricola-Gymnasium).
Die Sporthalle am Agricola-Gymnasium.
Das Bürgerhaus mit der Stadtbibliothek als Veranstaltungszentrum.
Die Bushaltestelle dient heute auch als Treffpunkt der Jugend der Stadt.